Artikel: SMM
Der «911er Turbo» ist Inbegriff von Schnelligkeit, Sicherheit und Präzision auf vier Rädern. Der 911er beim Reiben sind die RX-Reibahlen von Urma. Die fertigungstechnischen Fortschritte, die der Einsatz der«UrmaCircoTec RX»-Reibsysteme für die Lagerbohrungen von ABB-Schiffsturbinengehäuse gebracht hat, sind sensationell. Noch wichtiger: Die Prozesssicherheit stieg. Die ABB-Turbos sorgen wiederum dafür, dass Containerschiffe sicher und wirtschaftlich angetrieben werden. Das alles dank Schweiz-Schweizer-Kooperation.
Der 911er Turbo braucht 3,4 Sekunden von 0 auf 100. Das ist sehr ordentlich. Doch die Beschleunigung des Schlichtprozesses der Lagerbohrung von Schiffs-Turboladern bei ABB Turbo Systems Ltd. lässt selbst den 911er ein wenig alt aussehen.
Die Spezialisten der Urma AG erarbeiteten gemeinsam mit den Fertigungs-Spezialisten Thomas Kroker (Manufacturing Technology, Turbocharger Supplies & Production) und Roger Meister (CAM-Programmierung, beide ABB Turbo Systems AG ) ein Feinbohrkonzept, um die Hauptlager der grossen Schiffs-Turbolader in Rekordzeit, Höchstpräzision und perfektionierter Prozesssicherheit zu fertigen. Doch der Reihe nach.
Turbos für Containerschiffe bis 80 Megawatt Leistung
ABB Turbo Systems AG entwickelt, produziert, vertreibt und unterhält Turbolader für Diesel- und Gasmotoren von 500 kW bis 80 MW Leistung. Gegen 200 000 ABB-Turbolader sind weltweit auf Schiffen, in Kraftwerken, auf Lokomotiven, schweren Baustellen- und Minenfahrzeugen im Einsatz. Eine dezentrale Organisation mit über 100 Vertretungen auf der ganzen Welt garantiert einen schnellen, kundennahen und qualitativ hochstehenden Service – rund um die Uhr. Produktion, zentrales Ersatzteilzentrum sowie Forschung und Entwicklung befinden sich am Standort Baden in der Schweiz.
900 Mitarbeiter produzieren 9000 Turbos pro Jahr
Im Bereich ABB Turbo Systems Ltd. arbeiten 900 Mitarbeiter. Mit 38 Bearbeitungszentren in Baden und 25 BAZ in Klingnau werden pro Jahr zirka 9000 Turbos produziert.
Zuverlässigkeit das A und O
Thomas Kroker hebt im Gespräch mit dem SMM hervor, dass Zuverlässigkeit das A und O der ABB-Turbos sei: «Ein Turbo auf einem Containerschiff darf nicht ausfallen. Wenn passiert, was nicht passieren darf, dann müssen wir sofort reagieren. Ein Ersatzteil muss innerhalb von 48 h auf jedem Flughafen der Welt sein. Die meisten Schiffe kommen noch in den Hafen, weil die Turbos redundant ausgelegt sind. Grosse Containerschiffe verfügen in der Regel über 2–4 Turbos. Aber schlimmstenfalls müssen wir bei einem Turbo-Ausfall per Helikopter auf die offene See liefern und dort montieren.»
Die Ausgangslage
Das Turbolader-Gehäuse der seit 2007 gebauten Serie A100 aus Guss verfügt über mehrere Lagerstellen für den Verdichter mit einem Abstand von rund einem halben Meter. Der Reibdurchmesser liegt je nach Turbolader bei etwa 100 mm. Das Toleranzfeld IT5 verlangt höchste Präzision sowie eine hohe Oberflächengüte.
Bisheriges Fertigungsverfahren: ausgedreht
Nach Aussage von T. Kroker wurde die Bohrung bisher auf dem Bearbeitungszentrum «Mammut» zuerst zirkulargefräst und anschliessend feingedreht.
Die «Mammut» verfügt über eine integrierte Drehfunktion. Das Gehäuse steht, wie bei einer Karusselldrehmaschine üblich, auf dem Drehtisch, nun wird mit einem Ausdrehwerkzeug die Bohrung geschlichtet.
Bisheriger Prozess: zwingend Bedienung erforderlich
T. Kroker ergänzt: «Der Prozess funktionierte gut, musste aber zwingend von einer Person überwacht werden. Aufgrund der starken Asymmetrie des Gehäuses konnten wir nur niedrige Drehzahlen fahren, was die Prozesszeit in die Höhe trieb. Aufgrund der langen Auskragungen musste der Ausdrehprozess zudem sehr genau auf die Vermeidung möglicher Schwingungen hin abgestimmt werden. Das war sehr anspruchsvoll. Zudem mussten wir für die Bohrung mehrere Messschnitte ausführen, bis wir die geforderte Genauigkeit erreicht haben, deshalb war der Schlicht-Ausdrehprozess sehr zeitintensiv. Die Bediener mussten für jede Messung ihre andere Arbeit unterbrechen, was Unruhe in den Arbeitsablauf brachte. Aber mit unseren guten Mitarbeitern haben wir diese Bohrungen stets prozesssicher gefertigt. Wir würden es noch heute so fertigen, wenn wir nicht auf die Urma-Reibahlen gestossen wären.»
Reibschneiden, die wie Sägeblätter aussehen
Jetzt kommt das UrmaCircoTec-RX-Reibsystem des Schweizer Werkzeugherstellers aus Rupperswil ins Spiel. René Näf: «Mittlerweile ist unser Reibsystem im Markt relativ gut bekannt. Das war nicht immer so, als wir vor einigen Jahren mit diesen Reibsystemen, die wie Rundsägeblätter aussehen, zu den Kunden gingen, sagten diese: ‹Wir müssen Bohrungen reiben, wir müssen nichts sägen.›»
Ergebnisse waren äusserst vielversprechend
T. Kroker: «Als Werkzeug-Technologe muss ich immer auf dem neuesten Stand sein, deshalb beobachte ich das Geschehen von Werkzeug-Neuentwicklungen sehr genau. Die Urma-Reibahlen kenne ich relativ gut. Generell ist zum Reiben zu sagen, dass die Schneide geführt werden muss. Entweder über die Maschine, über Führungsleisten oder die Vorbohrung. Allerdings können wir bei ABB einen Fertigungsprozess nicht von heute auf morgen ändern. Wir müssen genau abwägen, inwieweit er Vorteile bringt. Zuvorderst steht die Prozesssicherheit. Da wir mit den CircoTec-RX-Reibahlen von Urma noch nie diese anspruchsvollen Lagerbohrungen gefertigt haben, führten wir im Vorfeld Versuche an Guss-Platten durch. Die Ergebnisse dieser Versuche waren äusserst vielversprechend. Aber dann fängt die Diskussion bei uns erst richtig an. Wir eruierten Vor- und Nachteile. Kritisch beim Reiben ist: Entweder die Bohrung passt, oder sie passt nicht. Ein Einstellen ist bei den UrmaCircoTec-RX-Reibahlen nicht möglich.»
Reiben: sehr prozesssicheres Verfahren
René Näf: «Das fixe Mass ist oft der Grund, warum es immer noch Maschinenoperateure gibt, die ungerne reiben. Sie können den Prozess nicht mehr beeinflussen. Ist die Reibahle in der Maschine, macht sie ihre Bohrungen, so genau wie sie hergestellt wurde. Wir als Hersteller müssen die Reibahle derart perfektionieren, dass die Bohrung immer passt. Wenn das Toleranzfeld z. B. 10 µm beträgt, entwickeln wir die Reibahle so, dass sie bei den ersten Bohrungen 1–2 µm oberhalb der Toleranzfeld-Mittellinie reibt. Das hat einen Grund, denn der typische Verschleiss von Reibahlen liegt nach den ersten Bohrungen bei 1–2 µm, dann bleibt sie stabil. Am Ende der Standzeit steigt der Verschleiss relativ stark an – im µm-Bereich wohlgemerkt – und sie muss getauscht werden. Diese Standzeit ist relativ genau zu bestimmen. Aus unserer Sicht als Reibahlen-Hersteller ist das ein äusserst prozesssicheres Verhalten.»
Wenn der Nachteil zum grossen Vorteil wird
T. Kroker: «Ich kann die Aussagen von Herrn Näf bestätigen. Der vermeintliche Nachteil – kein einstellbarer Prozess – ist für uns ein grosser Vorteil.
Mussten wir die Bohrungen bisher immer mit Fachpersonal feindrehen, geht dieser Feinbohrprozess heute mannlos. Wir konnten durch die Umstellung des Fertigungsprozesses die Bearbeitungszeit um über 90 % verringern.»
UrmaCircoTec RX: der «911er Turbo» unter den Reibahlen
Möglich macht das der «911er Turbo» unter den Reibwerkzeugen. Bei Urma heissen die Reibsysteme «UrmaCircoTec RX». Das Urma-Reib-Werkzeug für die ABB-Turbolader-Bohrung ist ~600 mm lang und mit einem HSK 100 für die Spindel-Schnittstelle versehen. Die als Reib-Scheibe aus Vollhartmetall konzipierte Schneide misst lediglich 5,3 mm Höhe und ist ohne Führungsleisten konzipiert. Über Insgesamt 12 Schneiden verfügt die Reibscheibe für diese Bohrung. Aktuell fahren die ABB-Spezialisten mit einem Zahnvorschub von fz = 0,35 mm, woraus sich ein vf = 1200 mm/min ergibt. Für Roger Meister immer noch nicht genug: «Ich denke, mit einer besseren Schneidenkühlung könnten wir einen noch grösseren Vorschub erreichen. Aber das ist eine andere Geschichte. Wir haben das CAM-Programm natürlich auf das Reiben umstellen müssen. Zwischen den Lagerstellen gehen wir auf bis zu 30 m/min hoch.»
Vorbearbeitung mitentscheidend
Entscheidend für prozesssicheres Reiben ist die Vorbearbeitung. Eine Spantiefe beim Reibprozess von 0,15 mm ist ideal. Bei den ABB-Turbos wird dieses Untermass entsprechend eingehalten. Wichtig ist, dass die Lage der Bohrung immer gleich produziert werden kann. Auch wurden alle Bearbeitungen für das Reiben optimiert, einseitig Aussparungen wurde als nachgelagerter Prozess festgelegt, damit keine asymmetrischen Querkräfte auf das Reibwerkzeug wirken und die Bohrung nicht verlaufen könnte. R. Näf: «Das Interessante ist, dass unsere Werkzeuge die Bohrungen ohne Führungsleisten präzis mit den entsprechenden Lagetoleranzen fertigen können. Mit ein Grund liegt sicher auch in den hervorragenden Vorbohrungen.»
Sensationelle Standzeit
Die Urma-Reibahlen sind nicht nur schnell und extrem genau, sie verfügen noch dazu über eine ausgezeichnete Standzeit, wie Roger Meister bestätigt: «Wir planen mit 80 m reiner Bearbeitungsstrecke. Aus unserer Sicht ist das ein hervorragender Wert.»
René Näf hat zur langen Standzeit allerdings eine geteilte Meinung: «Das dauert sehr lang, bis wir wieder die nächste Reibschneide verkaufen können. Viel Geld verdienen wir damit nicht. Technologisch ist das natürlich sensationell. Ich denke, die Werte unserer UrmaCircoTec-RX-Reibahlen sind derart überzeugend, dass auch andere Hersteller in Zukunft auf unsere Reibsysteme setzen werden.»
«Stete Verbesserungen sichern Schweizer Arbeitsplätze»
T. Kroker ist ebenfalls vom Reibprozess überzeugt und ergänzt: «Ich kann das bestätigen. Wir bei ABB können zwar nicht so schnell wie kleinere Firmen agieren, aber wenn wir einen Fertigungsprozess in unser Fertigungsportfolio übernommen haben, dann prüfen wir auch ähnliche Bearbeitungen auf die Anwendbarkeit des neuen Fertigungsprozesses hin. Der Fokus liegt ganz klar auf Prozesssicherheit. Ich bin überzeugt, dass das RX-System in Zukunft auch noch bei einigen anderen Präzisions-Bohrungen eingesetzt wird.»